Slow Medicine - Mindful Healthcare


 

Über die Geduld

 

 

Man muss den Dingen

die eigene, stille
ungestörte Entwicklung lassen,
die tief von innen kommt
und durch nichts gedrängt
oder beschleunigt werden kann,
alles ist austragen – und
dann gebären…

 

Reifen wie der Baum,
der seine Säfte nicht drängt
und getrost in den Stürmen des Frühlings steht,
ohne Angst,
dass dahinter kein Sommer
kommen könnte.

 

Er kommt doch!
Aber er kommt nur zu den Geduldigen,
die da sind, als ob die Ewigkeit
vor ihnen läge,
so sorglos, still und weit…

 

Man muss Geduld haben
Mit dem Ungelösten im Herzen,
und versuchen, die Fragen selber lieb zu haben,
wie verschlossene Stuben,
und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache
geschrieben sind.

 

Es handelt sich darum, alles zu leben.
Wenn man die Fragen lebt,
lebt man vielleicht allmählich,
ohne es zu merken,
eines fremden Tages
in die Antworten hinein.

 

Rainer Maria Rilke (1875 – 1926)

 


 

Die moderne Medizin ist durch nichts anderes mehr geprägt als durch den strukturell über sie verhängten Zeitdruck. Die politischen Vorgaben und die mit ihr etablierten Anreizsysteme sind derart, dass die Medizin immer mehr einem Wirtschaftsunternehmen gleich auf eine schnelle und standardisierte Durchschleusung von Patienten ausgerichtet wird. Die immer kürzere Taktung der Arbeitsschritte verändert nicht nur das Verhalten der Heilberufe, sie verändert vor allen Dingen ihr Selbstverständnis. Immer mehr wird Schnelligkeit, Stromlinienförmigkeit und Reibungslosigkeit zum eigentlichen Leitwert der modernen Medizin erklärt und alle anderen Werte diesem untergeordnet.

In einem auf Effizienz und Reibungslosigkeit getrimmten System werden die Heilberufe dazu angehalten, die schnelle Entscheidung als die vorzugswürdige anzusehen.

Auf der Strecke bleibt dabei das in Ruhe Durchgehen, das mit den anderen in Ruhe Besprechen, das ausführliche reflexive Abwägen und vor allem das kritische Hinterfragen.

Die für die Heilberufe unverzichtbare Geduld kann sich eben gerade darin ausdrücken, den Wert der Unterlassung neu aufscheinen zu sehen und das Gedeihenlassen als eine ausgezeichnete Form der Sorge um den anderen neu zu entdecken.

Geduld entsteht und verwirklicht sich dort, wo sie der Sorgfalt den Vorzug vor der Schnelligkeit gibt und dort, wo die Sorgfalt nicht leidet die Schnelligkeit gleichwohl zulässt. Geduld haben mit den Dingen heißt somit nicht weniger als Festhalten am Primat der Sorgfalt.

 

Prof. Dr. med. Giovanni Maio, M. A. phil.

 

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